Dr. Martin Sorg: Wissenschaft im Dienst der Artenvielfalt

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»Blindflug in der Biodiversitätskrise«

Dr. Martin Sorg: Wissenschaft im Dienst der Artenvielfalt

Als am 18. Oktober 2017 im Online-Fachjournal PLOS ONE eine Metastudie mit dem Titel »More than 75 percent decline over 27 years in total flying insect biomass in protected areas« veröffentlicht wurde, ahnten die Autoren nicht, was sie damit auslösen würden. »Uns war klar, dass wir Verluste in einer Dimension gemessen haben, die sehr bedenklich ist. Aber wir hätten nie gedacht, dass wir damit eine solche Lawine ins Rollen bringen«, erzählt Dr. Martin Sorg vom Entomologischen Verein Krefeld (EVK).

Für die Studie, zu der die Krefelder Entomologen mit der niederländischen Radboud Universität Nijmegen sowie der britischen Sussex University kooperierten, hatten die Expert:innen des Entomologischen Verein Krefeld zwischen 1989 und 2016 in 63 verschiedenen Schutzgebieten in Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz und Brandenburg sogenannte »Malaisefallen« betrieben – spezielle, nach dem schwedischen Entomologen René Malaise benannte zeltartige Insektenfallen, mit denen überwiegend Fluginsekten gefangen und anschließend in Alkohol konserviert werden. Die Auswertung zeigte: Die jährliche gesammelte Insektenmasse ist innerhalb der vergangenen 27 Jahre um knapp 76 Prozent geschrumpft.

Die große Welle

Anschließend gaben sich Journalisten und Kamerateams aus aller Welt beim Entomologischen Verein Krefeld buchstäblich die Klinke in die Hand. Spätestens als das New York Times Magazine am 27. November 2018 »The Insect Apocalypse Is Here« titelte und in einem 15 Seiten langen Bericht über das globale Insektensterben auch auf die Ergebnisse der oben genannten Studie verwies, waren die Krefelder Entomolog:innen in aller Munde. Martin Sorg – von NYT-Reporterin Brooke Jarvis beschrieben als ein Mann, »dessen graues Haar lang über die Schultern fällt, der seine Zigaretten selbst dreht und eine John-Lennon-Brille trägt« – erinnert sich an mehr als 500 Zeitungsmeldungen in jener Zeit, die zum allergrößten Teil im Ausland erschienen sind: »Diese Wellen aus dem Ausland sind dann immer wieder nach Deutschland rübergeschwappt.«

So ganz überraschend kam diese Welle allerdings nicht. Bereits im Januar 2016 hatte sich der Bundestagsausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit in einer öffentlichen Anhörung mit dem Insektenverlust in Deutschland beschäftigt. Der damalige NABU-Landesvorsitzende Josef Tumbrinck, gleichfalls Mitglied bei den Krefelder Entomologen, hatte in seinem Beitrag auf Erhebungen des EVK verwiesen und am Beispiel des Wahnbachtals bei Bonn gravierende Rückgänge der Insektenbiomassen und Artenzahlen präsentiert.

Hochburg Krefeld

Als Martin Sorg im Grundschulalter sein Faible für Insekten entdeckte, galt diese artenreichste Tiergruppe selbst bei Biolog:innen als quasi unverwüstlich: »Insekten schienen in der Natur eine feste Größe zu sein, um deren Bestandsentwicklung man sich keine Sorge machen musste – höchstens um eine geringere Zahl selten werdender Arten.« Zunächst galt sein Interesse vor allem den Käfern, später dann den Hautflüglern. Schon früh kam er in Kontakt mit Krefelder Entomolog:innen – wie wurde Krefeld überhaupt zu einer Hochburg der Insektenforschung? So genau kann das keiner beantworten, meint Martin Sorg und verweist auf eine Publikation des Insektenforschers und Zipfelkäferspezialisten Dr. Alfons Evers, in der dieser auf die ungewöhnlich hohe Anzahl von Entomolog:innen in Krefeld hingewiesen hatte.

Ein maßgeblicher Faktor war sicherlich die bereits 1905 mit klarer wissenschaftlicher Ausrichtung erfolgte Gründung des Entomologischen Vereins Krefeld. Unter den Mitgliedern – heute sind es rund 70 – waren immer sowohl Entomolog:innen mit universitärer Ausbildung als auch Autodidakt:innen. Gerade von den Letztgenannten erreichten nicht wenige ein Niveau, das mit Wissenschaftspreisen und Ehrendoktortiteln gewürdigt wurde. Weit mehr als 2.000 Publikationen stammen heute aus der Feder dieses Zirkels.

Gute Schule

Martin Sorg trat also in die Fußstapfen einer geballten, historisch gewachsenen Kompetenz, von der er nur zu gerne profitierte: »Es war für mich eine ideale Situation, in der von älteren Entomolog:innen entomologische Fachkenntnisse vermittelt wurden.« Eine ganz spezielle Form von Privatissima-Fortbildung, also der anspruchsvollen wissenschaftlichen Unterrichtung für einen ausgewählten Kreis

Nach seiner Ausbildung zum Chemielaboranten und einer kurzen beruflichen Station als technischer Angestellter im Arbeitsbereich Angewandte Entomologie und Mikroskopie, studierte Martin Sorg an der Universität Köln Biologie, Geologie-Paläontologie und Chemie. »Das ging ziemlich flott«, erinnert sich der Entomologe. Seine Dissertation, für die er durch diverse europäische Museen pilgerte, schrieb der Graduiertenstipendiat des Landes Nordrhein-Westfalen »Zur Phylogenie und Systematik der Bethylidae (Insecta, Hymenoptera, Chrysidoidea)«, widmete sich also wieder seinem Lieblingsthema Hautflügler, speziell den Plattwespen. Warum diesem Thema? »Ich fand diese Wespenfamilie interessant. Außerdem gab es damals noch keinerlei Bearbeitung zu ihrer Phylogenie, noch nicht einmal einen deutschen Namen für diese Wespenfamilie. Die Bezeichnung Plattwespen stammt von mir, gewählt nach der oft flachen Körperform.«

Ideologie versus Wissenschaft

Seit 1985 arbeitet Martin Sorg als Wissenschaftler, Autor, Fachberater und Gutachter. Er hat bis heute weit über 100 Forschungsprojekte des Entomologischen Vereins Krefeld und anderer Institutionen koordiniert und gilt als Spezialist für die Konzeption und Standardisierung entomologischer Methodik. Insofern kann er über die teils heftige Agitation gegen die verkürzt als »Krefeld-Studie« bekannt gewordenen Publikation nur lachen.

»Ideologisch motivierte Abwehrmanöver ohne Fundament«, resümiert Martin Sorg knapp, denn natürlich gebe es Lobbygruppen, denen die Daten aus dieser Veröffentlichung nicht passen. Martin Sorg und seine Krefelder Kolleg:innen überlebten die Angriffe schadlos und erhielten vielfältige Anerkennung aus Wissenschaftskreisen. Die Publikation wird heute als Meilenstein gehandelt und weltweit zitiert. Dazu gab es zahlreiche Wissenschaftspreise, beginnend 2017 mit dem Hermesdorf Award der Radboud University Nijmegen. Es folgten der UK Conservation Science Award der Royal Society 2018 und im gleichen Jahr der Deutsche Biodiversitätspreis. 2019 gab es den Science Hero Preis der Konferenz Biologischer Fachbereiche der deutschen Universitäten. 2020 erhielt Martin Sorg den Ehrenpreis zum Deutschen Umweltpreis der Deutschen Bundesstiftung Umwelt und 2021 das Bundesverdienstkreuz am Bande.

Astreine Methodik

Die Studie zum massiven Insektenrückgang basiert auf einer »vorbildlich standardisierten Methodik von der Freilandanwendung bis hin zu den Laborprozessen«, betont Martin Sorg. An diese Standardisierung haben die Krefelder seit Beginn der 1980er-Jahre intensiv gearbeitet. »Die methodischen Grundlagen müssen eine hohe Datenvergleichbarkeit gewährleisten, sonst haben Ergebnisse keine wissenschaftliche Relevanz«, erklärt Martin Sorg.

Herzstück dieser entomologischen Forschungen sind die eingesetzten Malaisefallen. »Ich habe bereits während des Grundstudiums überlegt, wie wir diese Fallen nutzen können.« Nach Gesprächen mit dem US-Entomologen Henry Townes, der diesen speziellen Fallentyp entwickelt und 1972 den Bautyp veröffentlicht hatte, begann der EVK 1982 mit der Produktion eigener Malaisefallen, um die Datenvergleichbarkeit zu optimieren. Die erste wissenschaftliche Untersuchung mit zwei dieser Fallen 1985 im rheinlandpfälzischen Naturschutzgebiet Koppelstein bestätigte die Krefelder Entomolog:innen in ihrer Entscheidung.

Fototaktisches Verhalten

Die Insekten fliegen ohne menschlichen Einfluss in die Malaisefallen. Dort nutzen die Forscher:innen das sogenannte fototaktische Verhalten der Insekten. Die meisten Arten streben ins Licht und bewegen sich deshalb vom dunkleren Einflugbereich nach oben in Richtung des weiß gefärbten Zeltdachs. Dort wartet in Südausrichtung eine Fangflasche mit hoch konzentriertem Alkohol, in dem die Insekten landen und sofort konserviert werden. Ist es nicht ein Widerspruch, das zu töten, was man schützen will? Martin Sorg sieht diese Entnahmegrößen in Relation zu anderen Einflüssen als minimale Störung: »Malaisefallen entnehmen Insekten in einer Größenordnung von durchschnittlich zwei bis vier Gramm Biomasse pro Tag aus der Natur. Diese Menge entspricht dem Tagesbedarf einer einzigen Zwergspitzmaus oder eines kleinen, insektenfressenden Vogels.«

»Mit den Malaisefallen können wir die Dichte und Artenzusammensetzung der Insekten erfassen, die in einer Flughöhe bis rund einem Meter unterwegs sind«, erläutert Sorg. Ein 1982 entwickeltes Schnittmuster, dessen Original im Archiv des EKV lagert, garantiert den immer identischen Bautyp, der in Deutschland von verschiedenen Nähereien produziert wird. Bei der Identifikation der gefangenen Insekten, die vollständig in den Entomologischen Sammlungen in Krefeld archiviert sind, seien die Krefelder Entomolog:innen in Zusammenarbeit mit dem Forschungsmuseum Alexander König in der aktuellen Forschung einen großen Schritt vorangekommen: »Neben den konventionellen Methoden der Artbestimmung existieren heute Verfahren der genetischen Arterkennung, die aus unserer Sicht in der modernen Biodiversitätsforschung geradezu revolutionäre Fortschritte erzeugen werden.«

Hoffnungsschimmer?

Mittlerweile sind zahlreiche weitere Studien zum Insektensterben erschienen, welche die Befunde der Krefelder Entomologen bestätigen, der Begriff selber wurde in den letzten Jahren zum Synonym für die Biodiversitätskrise. Erfolgreiche Volksbegehren wie »Rettet die Bienen« in Bayern und Baden-Württemberg ließen Politiker wie den bayerischen Ministerpräsidenten Markus Söder zu Insektenfreunden mutieren. Das Thema hielt auch explizit Einzug in den Koalitionsvertrag der neuen Bundesregierung: »Wir setzen uns für konsequenten Insektenschutz ein, werden den Einsatz von Pestiziden deutlich verringern und die Entwicklung von natur- und umweltverträglichen Alternativen fördern.«

Problem erkannt, Gefahr gebannt? Martin Sorg ist skeptisch. »Wir brauchen Schutzgebiete, deren Artendiversität durch ausreichende Maßnahmen und Risikomanagement gesichert wird. Denn dort leben in der Regel die letzten Populationen der regional vom Aussterben bedrohten Arten.« Warum das nicht passiert? Martin Sorg konstatiert systemische Problemfelder, kombiniert mit einem extremen Ausmaß an Kenntnislücken: »Wir steuern überwiegend im Blindflug durch diese Biodiversitätskrise.«

Die größten Sorgen bereiten dem Entomologen die schleichenden, teilweise irreversiblen Biodiversitätsschäden. »Wenn Arten in ganzen Regionen aussterben, ist der Genpool weg. Endgültig und für immer. Künftige Generationen werden uns das nicht vergeben.« Und er vergleicht die Biodversitätskrise mit einem anderen Menschheitsproblem: »Unser Umgang mit dem Klimawandel entscheidet darüber, wie wir künftig leben. Unser Umgang mit der Biodversitätskrise darüber, ob wir überleben.«

 

Weitere Informationen

=> Entomologischer Verein Krefeld

=> Übersichtsseite Buch: Mehr Mut zur Nachhaltigkeit

 

 

Ökosysteme schützen und verstehen

 

7.500 Wildstauden für Köln

 

Poster Artenvielfalt im Regenwald