Veye Tatah: Der Kampf für ein differenziertes Afrikabild

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»Wir brauchen mentales Empowerment«

Veye Tatah: Der Kampf für ein differenziertes Afrikabild

Was sagen Sie als Afrikanerin dazu? Es sind solche Fragen, mit denen man die 1971 in Kamerun geborene Veye Tatah früher heftig nerven konnte. Nachvollziehbar, denn niemand bei uns würde auf die Idee kommen, eine Nordisländerin zur Expertin für die Mentalität von Südsizilianer:innen zu erklären. Um die Absurdität solchen Denkens geografisch zu verdeutlichen: Zwischen dem marokkanischen Casablanca und Reykjavik in Island liegen rund 3.500 Kilometer, von Casablanca bis an die afrikanische Südspitze in Kapstadt sind es 7.400 Kilometer. Ist Veye Tatah heute immer noch genervt? »Manchmal«, lacht sie, aber: »Was soll ich machen? Dann bin ich eben eine stolze Panafrikanerin.«

Humor und Hartnäckigkeit spiegeln sich in dieser Antwort, Eigenschaften, die untrennbar zu Veye Tatah gehören. Die braucht sie auch, denn sie bohrt seit rund 25 Jahren ein ganz dickes Brett: Veye Tatah engagiert sich mit ihrem in Dortmund ansässigen Verein Africa Positive für ein differenziertes Afrikabild nicht nur in den deutschen Medien, sondern bei der Bevölkerung insgesamt. Ihr Engagement stößt auf breite Anerkennung: Unter anderem erhielt sie das Bundesverdienstkreuz am Bande und wurde mit dem »Eisernen Reinholdus« des Pressevereins Ruhr ausgezeichnet.

Einseitig negative Darstellung

Veye Tatah gehört zum Volk der Nso aus dem Nordwesten Kameruns, dem sogenannten Grasland. Nach Tatahs Abitur auf einem katholischen Internat nahmen die deutschen Nachbarn ihrer Eltern, die nach einigen Jahren in Kamerun wieder in ihre Heimat zurückkehrten, die damals 19-Jährige als Au-pair-Mädchen mit nach Bremerhaven. Dort arbeitete Tatah eineinhalb Jahre für die Familie und lernte so die deutsche Sprache. Danach zog sie nach Dortmund und studierte an der Technischen Universität Angewandte Informatik. Noch während ihres Studiums gründete sie 1998 Africa Positive.

»Als ich damals nach Deutschland gekommen bin, hat mich die einseitig negative Darstellung Afrikas in den Medien entsetzt«, erzählt Veye Tatah. Die Berichte hätten seinerzeit fast ausschließlich von Kriegen, Hungersnot, Armut und Krankheiten gehandelt: »Grausame Despoten, sterbende Kinder, schießwütige Rebellen.« Das habe sie als junges Mädchen schockiert, da sie in einem friedlichen Land groß geworden sei. »Mein Vater hat zuerst als Lehrer und später beim Zoll gearbeitet, meine Mutter als Krankenschwester und Hebamme. Wir haben in einem dreistöckigen Haus gelebt. Nicht alle Menschen in Kamerun laufen barfuß durch den Busch.«

Aktiv werden

»Wenn ich ein Problem entdecke, will ich es lösen. So bin ich einfach «, lacht Veye Tatah. Deshalb war es nahezu unausweichlich, dass sie 1996 viele Medien in Deutschland anschrieb und höflich nachfragte, warum überall ein solch undifferenziertes Afrikabild vermittelt werde. Die Zahl der Rückmeldungen hielt sich in engen Grenzen, an den Tenor einer Antwort erinnert sie sich noch: »Die Menschen sehen und lesen halt gerne schlechte Nachrichten.«

Was tun gegen so viel Stereotypie? Aktiv werden, eine eigene Zeitschrift starten, um alle Seiten Afrikas zu zeigen, so lautete der Lösungsansatz von Veye Tatah. »Um diese Idee zu realisieren, habe ich Africa Positive gegründet.« Seit mittlerweile 24 Jahren berichtet das Magazin über die Politik in den Ländern Afrikas, porträtiert interessante Menschen und hält seine Leser:innen über aktuelle kulturelle und gesellschaftliche Entwicklungen auf dem Laufenden. »Wir wollen eine Brücke sein zwischen Deutschland und Afrika«, so Tatah, »aufklären, damit die Menschen sich selbst ein differenziertes Bild machen können.«

Nicht nur eine Zeitschrift

Wer geglaubt hatte, es bliebe bei der Zeitschrift, ignoriert mit dieser Fehleinschätzung Veye Tatahs Energie und Lust am Gestalten. »Los ging es mit dem AFRO Lern- und Integrationsmobil, mit dem wir Kinder aus afrikanischen Familien wohnortnah in Dortmund Nachhilfe angeboten haben.« Parallel dazu gab es kostenlose Deutschkurse für die Mütter. Später kamen mit der Jugendorganisation »AFRICA POSITIVE Youths«, dem »Africa Positive Frauennetzwerk « und »AFRIDO«, einem Netzwerk für Afrikaner in Dortmund, weitere Projekte dazu.

Seit 2010 präsentiert das jährliche Afro Ruhr Festival in Dortmund die kulturelle und politische Vielfalt des afrikanischen Kontinents. »Gutes Essen, Tanz, Kultur verbindet uns alle, knüpft Verbindungen über Kontinente hinweg.« Das Projekt »Erzähl mal, wie du es geschafft hast!« ermöglicht einen Wissenstransfer zwischen schon länger in Deutschland lebenden, erfolgreichen und integrierten Mitgliedern der afrikanischen Community und jungen afrikanischen MigrantInnen. »Positive Vorbilder sind wichtig« betont Veye Tatah – eben Africa Positive!

 

 

 

Leidenschaft und langer Atem

24 Jahre Africa Positive – hätte Veye Tatah seinerzeit mit einem so langen Atem gerechnet? »Nie im Leben«, lacht sie, »ich hatte überhaupt keinen Plan und frage mich heute manchmal selbst, wie wir das geschafft haben.« In den ersten Jahren habe sie viel Skepsis in ihrem Umfeld gespürt, Wetten auf das baldige Ende von Africa Positive. Aber diese Haltung habe sie noch mehr motiviert und außerdem: »Wenn man etwas mit absoluter Leidenschaft betreibt, lassen sich viele Hürden überwinden.«

Nach ihrem Studium arbeitete Veye Tatah sieben Jahre als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Fachbereich Informatik der TU Dortmund. Anschließend machte sie sich als Beraterin und Projektmanagerin im Bereich Informationsmanagement sowie politische und kulturelle Angelegenheiten selbstständig. Außerdem ist sie seit 2003 Inhaberin des Cateringservices Kilimanjaro Food. »Klar war dieser Schritt mit viel Unsicherheit verbunden. Aber ich habe jeden Tag gespürt, dass mir etwas gefehlt hat.« Und längst weiß sie, dass ihre Entscheidung richtig war: »Ich sehe, wie ich mit Africa Positive etwas bewirken und zum Besseren verändern kann. Und ich liebe die Arbeit mit meinem Team.«

Hilfe und Eigenverantwortung

Leidenschaftlich wird Veye Tatah auch, wenn sie über die politische Situation in vielen afrikanischen Staaten oder über das aus ihrer Sicht falsche System der klassischen Entwicklungshilfe spricht. »Was die EU oder die USA als Entwicklungshilfe bezeichnen, bringt gar nichts, sondern schafft im Gegenteil weitere Abhängigkeiten.« Wenn wir die afrikanischen Länder nicht ausbeuten würden, bräuchten die Menschen auch nicht von dort zu flüchten. »Es gibt Länder wie Niger mit gewaltigen Uranvorkommen, doch der Großteil des Urans und die damit erzielten Gewinne landen in Frankreich. Und ohne die massiven europäischen Agrarsubventionen hätten afrikanischen Bauern und Fischer deutlich bessere Marktchancen.«

Veye Tatah betont aber auch die Eigenverantwortung der Menschen in den Ländern Afrikas: »Ich rede nichts schön. Vielerorts fehlt es an Infrastruktur und einer funktionierenden Verwaltung, korrupte Eliten stopfen sich die eigenen Taschen voll.« Sie selber würde derzeit auch nicht in Kamerun investieren. Ein weiteres großes Problem sei der in vielen Regionen nach wie vor dominierende Tribalismus: »Jede Region und jeder Stamm hat seine eigenen Bedürfnisse. Alleine in Kamerun gibt es 265 Sprachen. Diese Vielfalt kann man mit einer zentralistischen Regierungsform nicht bedienen.« Und wir, der reiche Westen, müssten aufhören, die Situation in vielen afrikanischen Ländern mit unseren Maßstäben zu messen: »Was bedeutet Demokratie für Menschen, die jeden Tag ums Überleben kämpfen?«

Es gebe zwar durchaus ermutigende Beispiele wie Botswana, Kenia, Benin oder Ghana, aber noch viel mehr sei zu tun. »Mentales Empowerment« ist dabei die zentrale Formel: »Entwicklung ist ein Prozess, der im Kopf beginnt. Die Menschen in Afrika müssen ihre Probleme selber lösen und ihr Schicksal in die eigene Hand nehmen.« Dabei sollten wir sie unterstützen, mit Bildung und vor allem mit fairen Rahmenbedingungen. Und uns dabei insbesondere auf die Frauen konzentrieren: »Afrikanische Frauen haben oft einen klareren Blick auf Zusammenhänge und vor allem eine große Zähigkeit und Ausdauer. Ohne Frauen wäre Afrika schon lange kaputt.«

Veränderungen

Solche Frauen wie Veye Tatah – hat sie noch enge Bindungen in ihr Geburtsland? Aber ja, sagt sie: »Ich fahre regelmäßig nach Kamerun, besuche meine Eltern und meine Geschwister.« Kamerun sei ihre Heimat, im Gegensatz zu ihren Kindern: »Die sind so deutsch, die würden sich in Kamerun auf Dauer nicht wohlfühlen.« Beide Söhne (22 und 26 Jahre alt) haben Betriebswirtschaftslehre studiert, der ältere betreibt bereits ein eigenes Unternehmen: »Der verdient mehr Geld als seine Mutter, sehr beruhigend«, lacht die 51-Jährige.

Fast ein Vierteljahrhundert engagiert sich Veye Tatah für ein besseres Miteinander von Deutschen und Menschen, die aus Afrika zu uns gekommen sind. Hat sich in dieser Zeit etwas verändert? »Die Medien berichten heute viel differenzierter über die Situation in afrikanischen Ländern, das ist ein großer Fortschritt.« Viele Politiker seien sensibler und Deutschland sei insgesamt vielfältiger geworden: »Als ich nach Dortmund kam, konnte man in der Fußgängerzone Afrikaner:innen an einer Hand abzählen. Heute sind es viel mehr.« Auch an der Universität sehe es längst bunter aus: »Zu Beginn meines Studiums hatte ich einen chinesischen Kommilitonen. Am Ende waren es mehrere Hundert.«

Und wie sieht es mit Rassismus aus? »Den gibt es genauso wie vor 30 Jahren, der ist nur subtiler geworden. Weniger körperliche Gewalt, mehr Anspielungen oder auch direkte Beleidigungen.« Gewöhnt man sich daran? »Natürlich fordert der Umgang mit Rassismus viel Kraft von den Betroffenen. Aber ja, man gewöhnt sich – und habe ich wirklich eine Wahl?« Für die meisten Migrant:innen seien Erfahrungen mit Rassismus Normalität und kosteten zusätzliche Kraft in ohnehin schon schwierigen Lebenssituationen. Letztlich gebe es zwei Strategien: Entweder die Betroffenen zögen sich zurück und blieben unter ihresgleichen oder sie gingen offensiv dagegen an. Keine Frage, welche Strategie Veye Tatah bevorzugt: »Ich habe eine große Klappe und lasse mir nichts gefallen.«

 

Weitere Informationen

=> Africa Positive

=> Übersichtsseite Buch: Mehr Mut zur Nachhaltigkeit