Valentin Thurn: Wie funktioniert nachhaltige Ernährung?
»Essen verbindet die Menschen«
Valentin Thurn – Wie funktioniert nachhaltige Ernährung
Zahlreiche Preise im In- und Ausland. Mehr als 130.000 Kinobesucher:innen in Deutschland und 30.000 in Österreich, Fernsehausstrahlungen in über 30 Ländern. Bemerkenswerte Zahlen für einen Dokumentarfilm – für den 2011 auf der Berlinale uraufgeführten »Taste the Waste«, mit dem der Regisseur Valentin Thurn einem breiteren Publikum bekannt wurde. Auch das Buch zum Film mit dem Titel »Die Essensvernichter« erzielte mit einer Auflage von über 35.000 einen großen Erfolg. »Mit diesem Thema haben wir offensichtlich den Nerv vieler Menschen getroffen«, sagt Thurn.
2003 gründete er die »Valentin Thurn Filmproduktion«, die 2019 in die »ThurnFilm GmbH« überführt wurde. Seit 1990 hat Thurn mehr als 50 Dokumentationen für Kino und das öffentlich-rechtliche Fernsehen realisiert, darunter preisgekrönte Produktionen wie »Ich bin Al Kaida« (Nominierung Deutscher Fernsehpreis), »Mit meiner Tochter nicht!« (Beste Dokumentation Filmfestival Eberswalde) und »Tod im Krankenhaus« (ARGUS-Medizinpreis). Die von ihm produzierte Kinodokumentation »Die rote Linie – Widerstand im Hambacher Forst« gewann unter anderem 2020 den GREEN IMAGE Grand Prize in Tokio.
Lebensthema Ernährung
Valentin Thurn studierte Geographie, Ethnologie und Politik in Aix-en-Provence, in Frankfurt und Köln und wurde an der Deutschen Journalistenschule in München zum Redakteur ausgebildet. Thurn ist nicht nur Regisseur, sondern auch TV-Produzent, Autor von Hörfunk-Features, Herausgeber von Sachbüchern und Dozent. Er ist Jury-Mitglied bei mehreren internationalen Filmfestivals, aber auch beim Wettbewerb »Zu gut für die Tonne«, mit dem das Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft seit 2016 herausragende Projekte im Einsatz gegen Lebensmittelverschwendung auszeichnet. Für sein Lebenswerk wurde ihm der Journalistenpreis der Deutschen Gesellschaft für Geographie verliehen.
Thurns Portfolio umfasst ein breites Spektrum, aber spätestens mit »Taste the Waste« hat er »sein Thema« gefunden. Wie kam es dazu? »Zuerst wollte ich nur einen kleinen Film über sogenannte ›Mülltaucher‹ machen – über Menschen, die in Müllcontainern nach weggeworfenen, aber noch essbaren Lebensmitteln suchen.« Im Verlauf seiner Arbeit an der geplanten Reportage wurde ihm die gewaltige globale Dimension des Problems klar, die dann in »Taste the Waste« mündete und sich längst auch in offiziellen Zahlen ausdrückt: Nach Angaben der UN-Landwirtschaftsorganisation FAO werden weltweit pro Jahr rund 1,3 Milliarden Tonnen essbare Lebensmittel weggeworfen, in Deutschland geht das Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft von jährlich etwa zwölf Millionen Tonnen aus.
Zorn und Kreativität
Valentin Thurn führt sein Interesse an dem Thema auch auf eine frühe biografische Erfahrung zurück: »Meine Mutter hat nach dem Krieg lange Zeit Hunger gelitten, bei uns daheim war Essen nahezu etwas Heiliges.« Ein guter Nährboden für den Zorn, den Thurn im Zuge seiner Recherchen entwickelte und den er in »Taste the Waste« einfließen ließ: »Auch das Publikum reagierte zornig.« Damals wurde ihm bewusst, dass es beim Thema Lebensmittel um viel mehr geht als um die reine Nahrungsaufnahme: »Essen verbindet die Menschen auf vielfältige Weise. Es geht um Genuss, um soziale Interaktion, aber auch um Gerechtigkeitsfragen.«
Es sei offensichtlich, dass die Nahrungsmittelindustrie bislang kein Interesse an einem bewussteren Umgang mit Lebensmitteln habe: »Welches Unternehmen reduziert schon von sich aus seine Profitmöglichkeiten?« Thurn schätzt die Chance, aus dem Wachstumsfetischismus auszubrechen, auf absehbare Zeit als gering ein – und plädiert für einen kreativen Umgang damit: »Anstatt immer mehr zu produzieren, sollten wir die offensichtlich vorhandenen Überkapazitäten als ›Reserve‹ begreifen, die intelligenter verteilt werden muss.« Diese Idee steht auch im Zentrum seiner zweiten großen, ebenfalls mehrfach ausgezeichneten Kinodokumentation »10 Milliarden« aus dem Jahr 2015, in der Thurn der Frage nachgeht, wie eine ständig wachsende Weltbevölkerung ernährt werden kann.
Raus aus der Komfortzone
Das Prinzip »Degrowth«, die Reduzierung von Produktion und Konsum, ist für Valentin Thurn ein wichtiger Ansatz. Wie soll das funktionieren, wie kann die auch hier allgegenwärtige Lücke zwischen Erkenntnis und Verhalten geschlossen werden? »Ich habe da auch keine Zauberformel«, gesteht der 59-Jährige, der uns alle in der Verantwortung sieht: »Wir müssen raus aus unserer Komfortzone. Jede und jeder von uns kann etwas bewirken.« Durch unser Essverhalten beeinflussten wir die Entwicklung sowohl in der Landwirtschaft als auch in der Ernährungsindustrie. Eines jedenfalls sei sicher: »Wenn alle so viel Fleisch essen wollten wie wir in den Industriegesellschaften, bräuchten wir vier Planeten.«
Es sei nur menschlich, dass wir uns mit persönlichen Verhaltensänderungen schwer täten und gerne auf »die da oben« verwiesen. Aber dennoch: »Ich halte mittlerweile eine Transformation, die von ›unten‹ ausgeht, für den zielführenderen Weg.« Gleichwohl komme es auch auf die politischen Rahmenbedingungen an. Das Versprechen der im Herbst 2021 gewählten Bundesregierung, die Lebensmittelverschwendung verbindlich zu reduzieren, sieht er mit vorsichtigem Optimismus: »Ich habe Hoffnung.« Dafür allerdings müsse die Bundesregierung das bisherige Dogma der Freiwilligkeit verlassen und mit verbindlichen Begrenzungen regulierend eingreifen. Durchaus eine Herausforderung: »Daran haben sich vor Cem Özdemir schon drei zuständige Minister:innen die Zähne ausgebissen.«
Von foodsharing zum Ernährungsrat
Aufrüttelnde Filme machen ist das eine, selbst aktiv werden das andere. Im Juni 2012 setzte Valentin Thurn eine Idee um, die während der Dreharbeiten zu »Taste the Waste« in ihm gereift war, und gründete mit Partner:innen aus ganz Deutschland den Verein foodsharing. Mithilfe einer Crowdfunding-Kampagne und durch großes ehrenamtliches Engagement konnte Ende 2012 die gleichnamige Internetplattform an den Start gehen. Dort sind Menschen und Betriebe vernetzt, die wertvolle Lebensmittel vor dem Wegwerfen retten. Als »ein Reallabor für bewussten Konsum«, bezeichnet Valentin Thurn die Plattform, auf der aktuell mehr als 360.000 Mitglieder aus Deutschland, Österreich und der Schweiz registriert sind. Knapp 9.000 Betriebe kooperieren mit foodsharing.
Beinahe zeitgleich mit dem Kinostart von »10 Milliarden« ging die von Valentin Thurn initiierte Plattform »Taste of Heimat« online. »Wir haben die Plattform – und den gleichnamigen Verein – als direktes Bindeglied zwischen regionalen Erzeuger:innen und Konsument:innen gegründet und wollten gleichzeitig aufklären, warum die Unterstützung regionaler Produzent:innen sinnvoll ist«, erläutert Thurn die Motivation. Durch die Arbeit an »Taste of Heimat« kam den Aktiven – einer bunten Mischung von Menschen aus Landwirtschaft, Agrarwissenschaft, Soziologie und Medien und vielen anderen an einer nachhaltigen Ernährung Interessierten – die Idee, nach dem Vorbild der US-amerikanischen Food Policy Councils einen Ernährungsrat für Köln zu gründen.
Beraten und antreiben
Gedacht, getan. Im März 2016 ging in Köln der erste deutsche Ernährungsrat mit Unterstützung der Stiftung Umwelt und Entwicklung Nordrhein-Westfalen an den Start. Zu den 30 Gründungsmitgliedern gehörten Landwirt:innen, Gastronom:innen, Lebensmittelhersteller:innen, Vertreter:innen von Initiativen und engagierte Bürger:innen sowie aus Politik und Verwaltung. Was machen Ernährungsräte, Herr Thurn? »Sie verstehen sich als beratende Gremien, die in Kommunen den Dialog zwischen Politik, Verwaltung, Erzeuger:innen, Vertrieben und Verbraucher:innen initiieren, um so langfristig und nachhaltig die Strukturen einer regionalen Lebensmittelversorgung zu stärken.« In der Kurzform: »Wir wollen Ernährungspolitik auf die kommunale Ebene heben.«
Der Ernährungsrat für Köln und Umgebung arbeitet derzeit in den vier Ausschüssen Regionalvermarktung, Urbane Landwirtschaft/Essbare Stadt, Ernährungsbildung und Gemeinschaftsverpflegung, Gastronomie und Lebensmittelhandwerk daran, seine Ziele zu erreichen. Die Zusammenarbeit mit der Stadt bezeichnet der Vorstandsvorsitzende Valentin Thurn als »konstruktiv«, auch wenn Teile der Stadtverwaltung immer noch recht schwerfällig unterwegs seien: »Manche dort stehen auf dem Standpunkt, dass wir ihnen angesichts des Personalmangels nicht noch mehr Arbeit aufbürden sollten.«
Konkrete Ergebnisse
Dennoch geht es voran. Im September 2021 wurden im Rahmen des vom Ernährungsrat initiierten und von der Stiftung Umwelt und Entwicklung Nordrhein-Westfalen geförderten Projekts »StErn-Kita« 14 Modellkitas in Köln mit regional produzierten und täglich frisch geernteten Lebensmitteln beliefert. Den zunächst vierwöchigen Probelauf bewertet Thurn als »großen Erfolg«. Basierend auf den Rückmeldungen der Kitas und den daraus gewonnenen Erkenntnissen soll zum Projektabschluss ein umfassendes Modellkonzept für die Kölner Region erstellt werden.
Im Mai 2019 stellte zum ersten Mal in Deutschland ein Ernährungsrat das in Zusammenarbeit zwischen Zivilgesellschaft und Stadtverwaltung entstandene Strategiepapier für die kommunale Ernährungswende vor. In 18 Kapiteln finden sich entlang der gesamten Produktionskette »Vom Feld bis zum Teller« neben Forderungen und Vorschlägen, wie eine kommunale Ernährungspolitik in Zukunft funktionieren könnte, auch gute Beispiele aus der Praxis.
Und nicht nur in Köln: Mittlerweile gibt es bundesweit mehr als 40 weitere Ernährungsräte. In Deutschland, Österreich, Italien, der Schweiz, Luxemburg und den Niederlanden arbeiten Ernährungsräte und Gründungsinitiativen aus 45 Städten und Regionen in einem Netzwerk gemeinsam daran, unter dem Motto »Ernährungsdemokratie Jetzt!« die Lebensmittelversorgung regional, fair und ökologisch zu gestalten.
Träume(r)
Dieses Ziel mag manch einem als Utopie erscheinen, als Traum, aber Valentin Thurn schätzt die Produktivkraft von Träumen. Genau darum geht es auch in seinem aktuellen Film »Träum weiter! «, in dem Thurn fünf ausgesprochen unterschiedliche Menschen vorstellt, die gegen alle Widerstände ihre lange verborgen schlummernden Träume verwirklichen – für sich selbst, aber auch für die Gesellschaft. »Ich will mit dem Film Menschen Lust machen, ihren eigenen Träumen nachzugehen, auch wenn das mit einem persönlichen Risiko verbunden ist.«
Was bringt uns dazu, ein solches Risiko einzugehen? »Wir alle haben unterschiedliche Voraussetzungen und Bewegkräfte für unser Handeln«, sagt Valentin Thurn. Er habe aber auch bei den Recherchen zum Träumer-Film gemerkt, dass der alleinige Fokus auf Geld und Wohlstand leicht in einem goldenen Käfig münden könne. »Ich bin davon überzeugt, dass wir nur die Dinge, die wir gerne machen, auch wirklich gut machen.« Wofür Valentin Thurn ein gutes Beispiel ist.
Weitere Informationen
=> Thurnfilm
=> Übersichtsseite Buch: Mehr Mut zur Nachhaltigkeit
Strategiepapier: Wie wollen wir Köln ernähren?