Tore Süßenguth: Brücken bauen, Digitalität schaffen
»Anstöße geben, anstoßen lassen«
Tore Süßenguth: Brücken bauen, Digitalität schaffen
»Anstoßen lassen und anstoßen können« – so fasst Tore Süßenguth die Essenz seiner Eine Welt-Bildungsarbeit zusammen. Die Basis dafür wurde während seines langjährigen Engagements für den Verein Partnerschaft Shanti-Bangladesch gelegt, ein ursprünglich studentisch geprägtes Netzwerk von Menschen, die sich für bessere Lebensbedingungen der Bevölkerung in Bangladesch einsetzen. Tore Süßenguth absolvierte zunächst seinen Zivildienst in Bangladesch und baute anschließend während seines Studiums auf ehrenamtlicher Basis das Freiwilligenteam auf.
»Wir Freiwilligen wurden ›Entwicklungslerner‹ genannt«, erzählt Tore Süßenguth. Also keine Schlaumeier, die Entwicklungshilfe von oben herab leisten, sondern Menschen, die sich zunächst einmal orientieren, sehen, was gebraucht wird und dann gemeinsam mit den Menschen vor Ort Projekte entwickeln, Erfahrungen sammeln und daraus lernen – eben »Anstöße geben und sich anstoßen lassen«. Zu den Höhepunkten seiner Zeit in Bangladesch gehörten Gruppenausflüge mit Besuchen in Universitäten und Betrieben: »Da eröffneten sich unbekannte Welten, viele der Jugendlichen waren zuvor noch nie so weit aus ihrem Dorf herausgekommen.«
Vorurteile hinterfragen
Tore Süßenguth ist im schleswig-holsteinischen Ahrensburg vor den Toren Hamburgs aufgewachsen. Er engagierte sich bereits in jungen Jahren an unterschiedlichen Schulen als Schüler:innensprecher. In der Oberstufe machte er in einer Projektgruppe erste Erfahrungen mit modernen didaktischen Methoden: »Wir haben ein ›Lernatelier‹ entwickelt, als Alternative zum klassischen Frontalunterricht. « Nach dem Abitur studierte Süßenguth zunächst in Potsdam Humangeografie und Soziologie und machte 2012 in Osnabrück seinen Master im Studiengang Internationale Migration und Interkulturelle Beziehungen.
Seine Masterarbeit schrieb er über Armuts- und Townshiptourismus in Windhoek, Namibia und Berlin-Neukölln, »die erste empirische Studie zu diesem Thema überhaupt.« Seit Mitte der 1990er-Jahre wurden in Windhoek Besichtigungstouren durch das ehemalige Township Katutura angeboten. »Ein Trend, der auf dem afrikanischen Kontinent Mitte der 90er-Jahre im Nachbarland Südafrika begonnen hatte.« Safariurlaub mit Slumbesichtigung? Es sei wohlfeil, sich über die touristische Inwertsetzung von Elendsvierteln in afrikanischen Metropolen zu mokieren, so Süßenguth: »So etwas gab und gibt es überall auf der Welt, im Londoner East End genauso wie in den brasilianischen Favelas oder im Chinatown New Yorks.« Und bei aller berechtigten Kritik biete das »Global Slumming« durchaus Chancen, eigene Vorurteile jenseits moralisierender Deutungsmuster zu hinterfragen.
Seit 2010 ist Tore Süßenguth selbstständiger Bildungsreferent zu den Themen Internationale Freiwilligendienste, Interkulturelle Öffnung und kulturbewusste Kommunikation. Er sieht sich als »Brückenbauer zwischen Einheimischen und Zugewanderten«, schafft Begegnungs- und Austauschräume und setzt sich für die Internationalisierung und interkulturelle Öffnung der Gesellschaft, von Unternehmen und weiteren Organisationen ein. Von 2014 bis 2019 arbeitete er beim AKLHÜ e. V. – Netzwerk und Fachstelle für internationale Personelle Zusammenarbeit, als Referent für Incoming-Freiwilligendienste und Qualitätsentwicklung und später auch noch für Internationale Freiwilligendienste und Politische Kommunikation.
»Ich hatte insbesondere die Aufgabe, mich beim sogenannten Bundesfreiwilligendienst um die internationale Komponente zu kümmern«, erzählt Tore Süßenguth. Das Interesse an der Aufnahme von internationalen Freiwilligen, dem sogenannten »Incoming«, sei in den letzten Jahren stetig angestiegen. Als Sprecher des vom Bundesfamilienministerium geförderten Projekts »FSJ Incoming aus dem globalen Süden« (FSJ INGLOS) arbeitete er maßgeblich mit an Empfehlungen für die künftige Ausgestaltung der Incoming-Freiwilligendienste. Die – indirekte – Konkurrenz zu dem ebenso mit solchen Themen befassten Entwicklungsministerium habe die Qualität der eigenen Arbeit durchaus gesteigert, so Süßenguth.
Zeit und Ressourcen
Wie lauten die Empfehlungen für eine erfolgreiche Incoming-Arbeit? Tore Süßenguth verweist zunächst auf die Notwendigkeit, in den Einsatzstellen Zeit und Ressourcen für das gegenseitige Kennenlernen und eine hochwertige pädagogische Begleitung zu schaffen. Letzteres habe er zu Beginn seines Zivildienstes in Bangladesch schmerzlich vermisst. »Diese Erfahrung hat mich motiviert, an der Verbesserung der Freiwilligendienste zu arbeiten, sowohl als Praktiker als auch konzeptionell.«
Ebenso wichtig sei es, die Rahmenbedingungen zu vereinfachen und zu standardisieren. »Dazu gehört eine Erleichterung der Visavergabe- und Verwaltungsprozesse ebenso wie eine gesicherte substanzielle Grundfinanzierung.« Eine gute Vorbereitung in den Heimatländern vereinfache den späteren Austausch auf Augenhöhe, verbessere die Lernmöglichkeiten für beide Seiten. Süßenguth betont zudem die Chancen für die Profilierung an den Einsatzorten, die durch erfolgreiche Incoming-Dienste entstünden: »Einen engagierten ghanaischen Freiwilligen in einem Pflegeheim dürfte sich kein Bundestagsabgeordneter in seinem Wahlkreis entgehen lassen.«
Herausforderungen
Aktuell arbeitet Tore Süßenguth bei der Münsteraner Nichtregierungsorganisation »Vamos« als Referent für Kampagnen- und Bildungsarbeit und ist zudem Mitglied des Geschäftsführungsteams. Die Themenpalette von »Vamos« reicht von den UN-Nachhaltigkeitszielen über Fairen Handel und Alternativen Konsum bis hin zu entwicklungspolitischen Zusammenhängen und den Möglichkeiten politischen und gesellschaftlichen Engagements. »Die Jugendlichen für die Themen abzuholen ist schon eine Herausforderung«, erzählt Süßenguth. Während man bei den Freiwilligen die Motivation in den meisten Fällen voraussetzen könne, sei das bei den in der Regel deutlich jüngeren Teilnehmer:innen an den Bildungsangeboten von »Vamos« manchmal herausfordernder. »Am Anfang haben viele eine abwartende Haltung, aber das ändert sich bei den meisten schon bald, wenn wir Themen und Produkte aus ihrem Alltag aufgreifen.
«Die Rolle des Sports bei der Verbesserung der Menschen- und Arbeitsrechtsbedingungen ist ein traditionelles Thema von »Vamos«. »An Sport haben die meisten jungen Menschen Interesse, das erleichtert den Zugang zu Bildungsangeboten«, erklärt er. Das gelte auch und erst recht für kritische Inhalte, etwa die Bedingungen bei der Produktion von Trikots oder Fußbällen oder aktuell zu den Umständen rund um die nächste Fußball-Weltmeisterschaft in Katar.
Ausgezeichnete Mapstories
Süßenguths Faible für innovative Lernmethoden konnte er zuletzt bei der Entwicklung der Lernplattform »Mapstories« verwirklichen. Ausgangspunkt des Projekts, das von der Stiftung Umwelt und Entwicklung Nordrhein-Westfalen gefördert wurde, war die Durchführung eines ko-kreativen Labs zur globalen Bekleidungsindustrie. »Mapstories.de« ist ein webbasiertes, gemeinsam mit dem Unternehmen re:edu entwickeltes OpenSource-Tool. »Die Plattform Mapstories ermöglicht es, Geschichten rund um die Welt zu erzählen, im Sinne des Storytellings globale Zusammenhänge mithilfe verschiedener Stationen auf einer Karte zu veranschaulichen. Am einfachsten ist es mit einer Powerpoint-Präsentation zu vergleichen, wo immer eine Karte zu sehen ist und man pro Folie an einen anderen Ort reisen kann«, erklärt Tore Süßenguth.
Die Mapstories seien durch die Möglichkeit der Herstellung systemischer Verknüpfungen vor allem im Kontext der Bildung für nachhaltige Entwicklung und Globales Lernen einsetzbar. Im Fall des von »Vamos« zusammen mit Schüler:innen der Mathilde-Anneke Gesamtschule Münster entwickelten Mapstorymoduls »Der Stoff, aus dem die Träume sind« hat das prima funktioniert: Das Projekt gewann den mit 2.000 Euro dotierten dritten Platz beim NRW-Medienpreis für entwicklungspolitisches Engagement 2021. Bei der Preisverleihung im Rahmen des Film Festival Cologne betonte Keyspeakerin Auma Obama, die Halbschwester des ehemaligen US-Präsidenten Barack Obama, die bedeutende Rolle der jungen Generation für die Umsetzung der Weltnachhaltigkeitsziele (SDGs).
Digitalität schaffen
Instrumente wie die Mapstories passen gut zur persönlichen Biografie des Geografen Tore Süßenguth, der weitere Vorteile erklärt: »Globale Zusammenhänge lassen sich einfach verdeutlichen, etwa die weite Reise eines T-Shirts von der Baumwollernte bis in den Laden. Und man kann mit wenig Aufwand schnell etwas entwickeln, kann Geschichten erzählen, etwa den eigenen Schulweg mit dem einer Schülerin in China vergleichen.« Ganz wichtig für ihn: »Die Schüler:innen werden zu Macher:innen des eigenen Gelernten.« Und Multiplikator:innen ihrer Kreativität, indem sie die Resultate über soziale Netzwerke mit anderen teilen. »Digitalität schaffen, das heißt die digitale Realität mit einbeziehen« nennt Süßenguth das, in Abgrenzung zur Digitalisierung, wo es um die Ausstattung mit digitaler Technik geht. »Vielleicht fungiert die Pandemie hier als Fortschrittstreiber«, äußert er die Hoffnung auf eine positive Entwicklung, die aus einer Krise erwachse.
Das nächste von dem 37-jährigen betreute Projekt bei »Vamos« heißt »Münsterland Global – Lokal« und ist eine Mischform aus analogen und digitalen Methoden und wird ebenfalls von der Stiftung Umwelt und Entwicklung Nordrhein-Westfalen gefördert. Dabei sollen sieben interaktive, themenspezifische Lernstationen mit Casual Learning-Inhalten an verschiedenen Orten im südlichen Münsterland installiert werden. In den Lernstationen werden auf klassischen Infotafeln globale Themen und Zusammenhänge erfahrbar und (g)lokalisiert, »wir erzählen Geschichten von Menschen hier und im Globalen Süden, zum Beispiel Landwirte oder Textilunternehmer:innen und -arbeiter:innen – und setzen diese Geschichten in globale Zusammenhänge.« Diese globalen Geschichten werden interaktiv mit der Plattform verknüpft. Ein Projekt, das auf vielen Wegen Erkenntnisse vermitteln und zum eigenen Engagement animieren kann. Ob digital oder analog sei letztlich zweitrangig, sagt Tore Süßenguth: »Ich denke, wir alle können den Raum finden, in dem wir aktiv werden, um positive Zukunftsbilder anzustoßen.«
Weitere Informationen
=> Übersichtsseite Buch: Mehr Mut zur Nachhaltigkeit
Vamos gewinnt NRW-Medienpreis für entwicklungspolitisches Engagement 2021